clarissa-kurscheid-interview-arzneimittel-importeure

„Corona hat uns in Echtzeit die Schwachstellen aufgezeigt“

„Politik kompakt“-Interview mit Frau Professorin Clarissa Kurscheid zu den gesundheitspolitischen Herausforderungen nach Corona.

Frau Prof. Kurscheid, im September steht die Bundestagswahl an. Was ist aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung für die neue Regierung im Hinblick auf die Gesundheitspolitik ab 2022?

Die größte Herausforderung wird wahrscheinlich sein, die vielfältigen Versorgungsherausforderungen gleichzeitig effektiv und effizient zu bearbeiten, um eine funktionierende medizinische Versorgung in einem strukturierten und vernetzten Gesundheitssystem weiterzuentwickeln.
Die Reform der Krankenhauslandschaft sollte schon vor der Corona Pandemie stattfinden und zu Häuserschließungen
bzw. Zusammenführungen führen. An dieser Stelle bedarf es einer Weiterentwicklung hin zu einer stärker sektorüber greifenden Versorgung.
Seit dem 01.01.2021 steht allen gesetzlich Krankenversicherten die elektronische Patientenakte (ePA) auf der eGK zur Verfügung und trägt u.a. dazu bei, die Arzneimitteltherapiesicherheit zu verbessern.
Die praktische Anwendung läuft allerdings schleppend und somit gibt es noch keinen erlebbaren Mehrwert in der Versorgung. Die patientenorientierte Gesundheitsversorgung muss weiter gestärkt werden, um Gesundheitskompetenz und Selbstmanagement der Patienten auszubauen. Dementsprechend sollte sich die Medizinausbildung auf eine gelungene intra- und intersektorale Kommunikation als auch auf Leistungsdelegation und multiprofessionell abgestimmte Versorgungseinheiten fokussieren.
Die Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe: aufgrund des Paradigmenwechsels im Krankheitspanorama braucht es eine gesetzliche Legitimation für Lotsen und Fall- respektive Case Manager, die die Patienten gezielt durchs System begleiten.

An welchen Stellen hat die Pandemie aus Ihrer Sicht die größten Schwächen in unserem System aufgezeigt bzw. wo muss am dringendsten gehandelt werden?

Die Corona-Krise hat uns dieses Mal nicht in einer theoretischen Hochrechnung, sondern in Echtzeit die Schwachstellen
und damit zeitnah umzusetzenden Handlungsfelder aufgezeigt.
Der Digitalisierungsgrad muss durch die Einbindung von data science als ein interdisziplinäres Wissenschaftsfeld in das Gesundheitswesen deutlich erhöht werden, um insgesamt die lückenlosen Daten- und Informationsflüsse zu verbessern.
Mit Blick auf die psychische Gesundheit
gab es auch vor Corona schon Handlungsbedarf auf unterschiedlichen Ebenen. Durch die Einschränkungen des sozialen und beruflichen Lebens sind viele Menschen zusätzlich psychisch erkrankt, so dass die Gestaltung innovative Präventionsprogramme für verschiedene Lebenswelten generell und auch für Krisenzeiten voran zu treiben sind.

Haben sich durch die Corona-Pandemie auch Chancen aufgetan?

Chancen gibt es sicherlich in der Möglichkeit der flächendeckenden Digitalisierung, denn die Bereitschaft zum digitalen Austausch und Umgang mit entsprechenden Medien ist in Pandemie-Zeiten viel größer geworden. Die Frage ist, ob die Umsetzungsbereitschaft der Versorgungsakteure da ist, den jetzt entstandenen Flow nachhaltig weiter zu entwickeln.
Durch die Pandemie hat sich das Impfbewusstsein und die Impfbereitschaft deutlich erhöht. Dieser Ansatz kann für die Zukunft genutzt werden. Für die Schulen, für Ausbildung und Studium sollten neue Ansätze gedacht werden und die Aspekte Bildung, Soziales und Gesundheit sollten enger miteinander verzahnt werden. Insgesamt hat sich in der Pandemie gezeigt, dass restriktive Arbeitsplatzregelungen nicht mehr den Stellenwert besitzen und den Arbeitnehmern ein flexibleres Arbeiten bei gleich starker Produktivität ermöglicht werden kann.

Die aktuelle Diskussion zum Gesundheitswesen zeigt, dass der Reformwille mit den vorhandenen finanziellen Mitteln steht und fällt. Welche neuen Lösungsansätze gibt es aus Ihrer Sicht?

Zu wünschen ist, dass die Kultur des Zusammenarbeitens gestärkt wird und die sektorbezogene Finanzierung künftig sektorübergreifend gestaltet wird.
Letztlich sollte die Versorgungsqualität nicht ausschließlich an leitlinienorientierten Qualitätsindikatoren, sondern an Versorgungsindikatoren wie pay for quality, sowie einer effizienten und effektiven Versorgungssteuerung ausgerichtet werden.
Frau Prof. Kurscheid, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Nach oben scrollen